Es grünt so grün

Es ist Wahltag im Südwesten Deutschlands. Das bekommen sogar Nordlichter mit, falls sie aus Versehen den Fernseher einschalten. Landtagswahlen gab es, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Da möchte ich euch mal mit den absoluten Zahlen versorgen, damit ihr euch einen Überblick über die realen Mehrheitsverhältnisse machen könnt. Insbesondere konnte man gut sehen, was passiert, wenn genügend Leute ihren Hintern hoch bekommen, weil sie ein Signal setzen wollen. Zuerst mal die Tabellen, die Links hinter den Bildern führen zu den offiziellen Statistiken:

Landtagswahlen 2011 / 2006 in Baden-Württemberg (es gab nur eine Stimme)

Landtagswahlen 2011 / 2006 in Rheinland-Pfalz (Zweitstimmen)

Bevor ich zu meiner Analyse komme, möchte ich aus gegebenem Anlass noch einmal betonen: ja, ich werfe die Nichtwähler und die ungültigen Stimmen in einen Topf. Das liegt zum einen daran, dass sie für alle rechnerischen Zwecke (außer der offiziellen Statistik der Wahlbeteiligung) den gleichen Effekt haben. Zum anderen fallen sie auf diese Weise sogar in Rechnungen heraus, die die Nichtwähler explizit berücksichtigen. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass diese 69.043 bzw. 40.607 Leute ausschließlich oder auch nur überwiegend von der Aufgabe des Ankreuzens überfordert waren. Insofern kann man davon ausgehen, dass sie sich für schlauer als die anderen halten, und niemand bemerkt es.

Natürlich wurde den ganzen Abend über zwei offensichtliche Ergebnisse geredet: die überragend guten Ergebnisse der Grünen und die schlechten der FDP – beides relativ erfreulich, letzteres mehr als ersteres. Ich glaube zwar nicht, dass die Grünen das in sie gesetzte Vertrauen verdienen, aber unter den gegebenen Möglichkeiten waren sie sicherlich noch eine der besseren Möglichkeiten. Insbesondere in Baden-Württemberg, wo sie nun tatsächlich sogar den “Landesvater” stellen dürfen, haben sie nun eine Chance, sich in Zukunft endlich mal konsequent für die eigenen erklärten Ziele einzusetzen. Dieser Erfolg ist überwiegend der Tatsache zu verdanken, dass die Wahlbeteiligung dort enorm gestiegen ist.

Die dadurch “verzerrten” Mehrheitsverhältnisse unter den gültigen Stimmen, von denen im Fernsehen ausschließlich die Rede ist, sorgte für einen interessanten Effekt: obwohl weder die SPD noch die CDU Wähler in BW verloren haben – im Gegenteil, es sind über 150.000 bzw. knapp 200.000 mehr – wurden ihre Ergebnisse als Niederlagen gewertet und auch von den eigenen Sprechern so anerkannt. In der offiziellen Variante hat die CDU 5,2 Prozentpunkte verloren (obwohl sie in Wirklichkeit 2,2 Prozentpunkte mehr Stimmen erhielt). Zum Vergleich, die FDP hat offiziell 5,4 Prozentpunkte verloren, und auch tatsächlich fast 2,2 Prozentpunkte der Stimmen. Da musste ich auch zwei mal hin gucken, um das zu glauben.

Die CDU wurde nicht im Geringsten abgestraft, was sehr schade ist! Viel zu viele Menschen lassen sich ohne jegliche Konsequenzen zu ziehen frech ins Gesicht lügen, das wissen wir nicht erst seit Guttenberg. Die Verschiebungen in den Sitzverteilungen sind nicht wie in den letzten Jahren üblich durch Abwendung und Resignation entstanden, sondern durch echte Mobilisierung. Aber da der Zuwachs der Wahlbeteiligung in BW so viel größer ist als in RLP, gehe ich davon aus, dass Stuttgart 21 dazu mehr beigetragen hat als Fukushima.

Wegen eines Achtungserfolgs habe ich mal die Piraten aufgenommen. Für Landtagswahlen halte ich deren Ergebnisse schon für bemerkenswert, Gratulation! Während die Linkspartei, die in beiden Ländern immerhin geringfügig wachsen konnte, aber dementsprechend auch 2006 keine Sitze ergattern konnten, in allen Grafiken aufgeführt wurde, wurden von den Piraten nicht mal als Kuriosität erwähnt. Dabei haben sie in BW schon über 100.000 Stimmen, fast drei Viertel so viele wie die Linken! Heute Abend feiern sicherlich nicht nur die Grünen zurecht.

Im Osten nicht viel Neues

Immerhin gibt es eine wirklich erfreuliche Änderung bei der Landtagswahl 2011 in Sachsen-Anhalt: die FDP darf nicht mehr mitspielen. Die schlimmsten Verluste verzeichnet die graue Eminenz Nichtwähler – auch eine gute Sache, aber nach dem Rekordhoch 2006 auch nicht sehr verwunderlich. Außerdem sind es immer noch mehr als die Hälfte!

Im Gegensatz zu den offiziellen Werten, laut denen die CDU 3,7 Prozentpunkte verloren hätte, sind es relativ gesehen sogar mehr als zuvor. Aber das liegt auch nur daran, dass die Menge der Wahlberechtigten um über 4% abgenommen hat. Wenigstens sind es in absoluten Zahlen wieder ein paar tausend Menschen weniger. Aber kommen wir mal zu den nackten Zahlen, Zweitstimmen der Landtagswahlen 2011 im Vergleich zu 2006 in Sachsen-Anhalt, ohne die Nichtwähler zu verschweigen:

Zu erwarten war der Zuwachs bei den Grünen – viele Menschen schreiben der Partei schon aufgrund der gewählten Farbe Kompetenz in Umweltthemen zu. Und im Angesicht der furchtbaren Ereignisse in Japan gibt es dann eine gewisse Menge Gelegenheitswähler, denen ich jetzt einfach mal frech unterstelle, dass sie sich bei nächster Gelegenheit wieder anders entscheiden, sobald wieder andere Themen die Schlagzeilen beherrschen. Nun ja, es gibt sicher schlechtere Auswahlmöglichkeiten.

Nicht gesondert aufgeführt habe ich übrigens die braune Sauce. Zwar klingen die +4,6 Prozentpunkte (bzw. von 0 auf 45697) der gültigen Zweitstimmen für die NPD jetzt erst mal viel, aber das kommt schon von daher, dass DVU und Republikaner dieses Jahr nicht auf der Liste sind. Diese hatten zusammen 2006 auch schon 31228 Stimmen, also ist der Zuwachs hier nicht so gewaltig, wie manche berichten.

Die Lösung für schlechte Wahlergebnisse

Ich habe hier ja gelegentlich Wahlergebnisse ungeschönt präsentiert, also ohne die Nichtwähler zu verschweigen. Damit bin ich ja bei weitem nicht alleine, und das daraus resultierende unschöne Bild konnten unsere werten Poliker ja auch nicht tatenlos hinnehmen. Also wie sieht die Lösung aus? Wird jetzt etwa tatsächlich ein wenig mehr Politik für die Randgruppe Nichtmillionäre gemacht? Weit gefehlt – man verkompliziert einfach das Wahlsystem, damit man es nicht mehr so deutlich sieht.

Für die jüngsten Wahlen, zur Bürgerschaft in Hamburg 2011, hat man ein System entworfen, bei dem man nun statt einer fünf Stimmen frei verteilen kann. Ob das nun wirklich die Mitbestimmungsmöglichkeiten erhöht oder nicht, kann man gerne diskuttieren, aber auf jeden Fall erschwert es den Vergleich zu früheren Ergebnissen. Treffenderweise wird im vorläufigen amtlichen Endergebnis auch angegeben:

Da auf Grund der Wahlrechtsänderung die Wählerinnen und Wähler bei der Bürgerschaftswahl 2011 bis zu 5 Stimmen vergeben konnten, ist ein Vergleich der absoluten Zahlen mit der Bürgerschaftswahl 2008 nicht sinnvoll; auf die entsprechenden Angaben 2008 wird daher verzichtet.

Um es dennoch mit dem amtlichen Endergebnis 2008 vergleichen zu können, habe ich einfach mal folgende Rechenformel verwendet: die Stimmen pro Partei geteilt durch die durchschnittliche Stimmenzahl pro Stimmzettel (~4,78). Das dürfte so einigermaßen stimmig die Wähler den Parteien zuordnen. Auch wenn Roberto zu etwas anderen Zahlen kommt, meine sehen wie folgt aus.

Man kann sehen, die stärksten Zuwächse verzeichnet mal wieder das Heer der Unwilligen, es nähert sich der (echten) absoluten Mehrheit. Über 80000 Menschen haben sich der SPD zugewandt – wir können wohl in den nächsten Jahren sehen, ob die entgegen ihrer Tradition diesmal irgend etwas besser machen als “die anderen”. Und während die Grünen unverständlicherweise sogar noch gestärkt aus dem Ausverkauf jeglicher vorgeblicher Werte hervorgehen, sackt die CDU völlig in sich zusammen. Deutlich über die Hälfte ihrer ehemaligen Anhängerschaft wendet sich ab.

Was ich sehr schade finde: obwohl (mir jedenfalls) klar ist, dass es sich im Wesentlichen nur um Seiteneffekte der Ablehnung gegenüber der CDU handelt, feiert sich die SPD ausgiebig. Sie ist mit einem Wahlprogramm des “Wir haben alles richtig gemacht” angetreten und der in die Ecke gedrängte Wähler verschafft ihnen die Sitzmehrheit im Parlament. Obwohl drei von vier das eigentlich gar nicht wollten, aber – und da laufe ich nicht nur Gefahr, mich zu wiederholen – wer den Hintern zu Wahl nicht mal hoch kriegt, kann auch danach gerne mal die Klappe halten.

Ihr möchtet andere Politik? Warum lasst ihr euch dann von denen, deren Politik ihr partout nicht mehr sehen könnt, sagen, dass die Politik der anderen falsch und gefährlich ist? Warum glaubt ihr den medialen Handlangern der Bänker, dass z.B. die Linkspartei uns in den finanziellen Ruin treiben würde, während ihr gleichzeitig duldet, dass die neoliberale Soße genau dies aktiv (und nicht nur passiv) fördert? Warum lasst ihr euch von erwiesenen Lügnern erzählen, dass die anderen nicht die Wahrheit sagen? Oder was wäre denn so schlimm daran, wenn einer aus dem halben Dutzend kleinen Krauter plötzlich (sagen wir mal) 20% der Stimmen erhält? Könnten die wirklich mehr kaputt machen als diejenigen, die immer und immer wieder beweisen, dass sie in dieser Disziplin reichlich Erfahrung haben? Nur, weil ihr ein mal aus Versehen Schillisauce mit braunen Plocken ausprobiert habt, müssen die anderen nicht automatisch genau so widerlich sein.

Die Qual der Wahl

Da haben wir es mal wieder geschafft, eine weitere Schicksalswahl ist überstanden. Schicksalswahlen nennt man solche, die entscheidende Richtungsweiser für die Zukunft darstellen sollen. Aber das ist auch mal wieder nur Gelaber, denn schauen wir uns die Richtung, in die der Wähler gewiesen hat, einfach mal im Detail an. Ich betrachte jetzt mal nur die Zweitstimmen 2010, 2005 gab es nur eine Stimme:

Wahl NRW 2010

Die stärksten Zugewinne hat die Partei der Nichtwähler, mal wieder. Sie hat inzwischen mehr Anhänger als eine gedachte große Koalition aus CDU und SPD! Die FDP hat auch nur sehr wenig dazugewonnen – schlimm genug, aber 0.1 Prozentpunkte klingen schon viel besser als die 0.6, die ohne Berücksichtigung der Nichtwähler überall verkündet werden. Und die SPD hat nach dem Rekordtief 2005 nochmal knapp 3 Prozentpunkte abgegeben, das konnten auch die erstarkten Grünen nur gerade so ausgleichen.

Man kann also, ohne sich selbst in die Tasche zu lügen, nur annehmen, dass die Richtung lautet: “Keine Ahnung wohin, aber nicht dort hin, wo ihr hin wollt!”. Aber, wie erwartet, füllen sich die Taschen dann doch. Die SPD feiert ausgelassen, dass sie ausnahmsweise mal weniger verloren hat als die CDU. Die FDP erkennt laut Interview gestern das klare Signal zu mehr Einigkeit in der Bundespolitik – also nicht etwa weniger Gesetze, die die Interessen der Bevölkerung mit Füßen treten, sondern mehr sind gefragt, logischerweise.

Lustig fand ich auch die Aussage der SPD, dass es zwar undenkbar sei, eine Koalition mit der Linkspartei einzugehen, aber dass man davon ausgeht, dass in allen wesentlichen Punkten die Linkspartei für die Anträge einer rot-grünen Regierung stimmen würde. Also wenn man inhaltlich auf einer Linie mit jemandem ist, den man gerne Verfassungsfeind schimpft, ist das immer noch kein Anlass, den Denkapparat mal wieder zu entstauben?

Naja, eine erfreuliche Nachricht noch zum Schluss: in der Altersgruppe von 18 bis 29 haben die Piraten 7% der gültigen Stimmen erreicht. Insgesamt gab es knapp 120.000 Stimmen (0,9%), damit sind sie die sechststärkste Partei in NRW. :)

Die Hornissenkoalition hat nicht gewonnen

Heute habt ihr euch entschieden. Und die Entscheidung führte dazu, dass wir die nächsten vier Jahre von Schwarz-Geldb regiert werden. Aber die Behauptung, dass die Koalitionsparteien dazugewonnen hätten, ist eine Falschmeldung! Denn die Wahl wurde vor allem durch die Nichtwähler entschieden, welche deutlich mehr geworden sind. Betrachtet man das Ergebnis mal über die Gesamtheit der Wahlberechtigten, und vergleicht das mit der gleichen Analyse von 2005, ergibt sich folgendes Bild:

Bundestagswahl mit Nichtwählern Update

Mit ein wenig Kopfrechnen kann man somit klar sehen, dass Schwarz-Gelb im Vergleich zu 2005 zusammen 0,5 0,64 Prozentpunkte verloren hat. Und dennoch sind sie die klaren Sieger. Das ist euch zu danken, liebe Nichtwähler. Ich wünsche euch von Herzen, dass ihr in den nächsten vier Jahren zu den Verlierern der beschleunigten Umverteilungsprozesse gehört. Nicht zwingend, weil ich möchte, dass es euch schlechter geht – aber vielleicht hilft euch nur dies, um zu sehen, dass es noch viel schlechter gehen kann, wenn man die Neoliberalen schalten und walten lässt, wie es ihnen gefällt.

Noch eine Botschaft für die SPD: ihr habt es euch redlich verdient. Und für die Architekten eures Untergangs, die ja auch schon bekundet haben, dass sie diese Aufgabe gerne weiter fortführen möchten, habt ihr auch noch Applaus übrig. Seid ihr wirklich so dumm, zu glauben, dass ihr nicht für die Agenda 2010, nicht für eure schlimme Finanzpolitik (die den Heuschrecken überhaupt erst die gesetzliche Grundlage zum Kahlfraß gab), nicht für Gesetze wie rückwirkende Pfändung von 3 Monatsgehältern bei Firmenpleiten (ja, das kommt von der SPD, nicht von der FDP!) und nicht zuletzt für eure Kriegstreiberei abgestraft werdet?

Hört auf, die Schuld bei anderen zu suchen! Nicht der Erfolg der Linkspartei ist für euren Untergang verantwortlich (Umkehrschluss teilweise aber durchaus zutreffend), nicht eine historische, statistisch belgte Schwäche der Partei nach Phasen der Juniorpartnerschaft in großen Koalitionen, es war ganz konkret eure Politik nach 1998! Und solange sich die SPD nicht von Schröder und Co ganz klar distanziert (was ohne personelle Konsequenzen nicht funktioniert), solange wird es für die SPD weiter bergab gehen. Ihr habt schon 2005 geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann. Jetzt glaubt ihr schon wieder daran, die Talsohle erreicht zu haben. Ich sage euch: es geht noch tiefer, noch viel tiefer. Aber dann steht Steinmeier sicherlich gerne als außerparlamentarischer Oppositionsführer zur Verfügung.

Update: die Zahlen basieren nun auf dem amtlichen Endergebnis von 2005 und dem vorläufigen von 2009. Dadurch vergrößert sich der “Verlust” sogar noch etwas.